Heimarbeit, erwerbstätige Frauen und Automatisierung – all das könnte das potenzielle BIP-Wachstum stärker beflügeln als in den vergangenen Zyklen.
Joe Seydl, Senior Markets Economist
Pieter Clerger, Associate Markets Economist
Während der US-Wirtschaftsaufschwung an Fahrt gewinnt, fragen sich einige Beobachter, was uns die Geschichte über das beginnende Jahrzehnt verraten könnte. Vor allem: Ist die US-Wirtschaft dazu verdammt, die Inflation und Stagflation der 1970er Jahre zu wiederholen? Oder könnte die Wirtschaft eine willkommene Neuauflage der 1990er Jahre erleben, als die Arbeitsproduktivität sprunghaft anstieg (das letzte Mal, dass dies der Fall war) und das BIP eine durchschnittliche Wachstumsrate von etwa 4 % verzeichnete?
Es ist noch zu früh, um diese Frage zu beantworten, aber insgesamt sind wir optimistisch – sicherlich optimistischer als die Konsensansicht der Ökonomen.
Während die US-Wirtschaft in der schleppenden Erholung von der globalen Finanzkrise 2008 nie wieder ihre Wachstumsrate vor der Krise erreichte, geht die derzeit robuste US-Wirtschaft nun schnell von der frühen in die mittlere Zyklusphase über – trotz der Nachwirkungen des COVID-19-Schocks.
Wie schnell? Wir erwarten, dass das BIP-Niveau bereits im ersten Halbjahr 2022 zu seinem Trend vor der Pandemie zurückkehren wird.
Die Wirtschaft hat ihr Wachstum vor der GFK nie mehr erreicht
Während die meisten Ökonomen inzwischen von einer raschen Erholung ausgehen, herrscht über das Wachstumspotenzial der Wirtschaft weniger Konsens. Wir sind optimistisch. Wir glauben, dass das potenzielle BIP (die Gesamtmenge an Gütern und Dienstleistungen, die dem Inflationsziel der US-Notenbank von 2 % entspricht) bei etwa 2,25 % pro Jahr liegen könnte, also über der aktuellen Konsensprognose von 1,8 %.
Ein wesentlicher Bestandteil unseres Ausblicks: Bei der Arbeitsproduktivität (BIP pro geleistete Arbeitsstunde) erwarten wir eine Wachstumsrate von 1,75 % bis 2,00 %. Das wäre weitaus höher als der Zuwachs von 1,25 % aus dem letzten Zyklus. (Zusammen ergeben die Arbeitsproduktivität und die Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden das potenzielle BIP.)
Wir beleuchten hier drei Aspekte der Erholung, die dazu führen könnten, dass das potenzielle BIP nach oben korrigiert wird: die Arbeit im Homeoffice, Frauen in der Erwerbsbevölkerung und Automatisierung. Außerdem gehen wir darauf ein, was eine solche Korrektur für die Märkte bedeuten könnte.
Heimarbeit
Wie unsere kollektive Zoom-Müdigkeit zeigt, hat sich das „Homeoffice“ im Jahr 2020 als dominierender Trend erwiesen. Aus arbeitsökonomischer Sicht wurden auf dem Höchststand von 2020 rund 60 % aller US-Arbeitsstunden aus der Ferne geleistet, verglichen mit einem Durchschnitt von etwas mehr als 5 % vor 2020.
Umfragen deuten darauf hin, dass der Anteil der Telearbeit nach der Pandemie etwa 20 % bis 25 % betragen wird. Laut Schätzungen des Bureau of Labor Statistics könnten ungefähr 45 % der Arbeit aus der Ferne erledigt werden.
Heimarbeit bedeutet weniger Zeit im Berufsverkehr. Vor der Pandemie verbrachten US-Beschäftigte durchschnittlich etwa 54 Minuten pro Tag auf dem Weg zur und von der Arbeit. Erhebungen legen nahe, dass bis zu 35 % dieser „Zeitersparnis“ während der Pandemie in zusätzliche Arbeitsstunden geflossen sind.
Der kumulative Effekt könnte bedeutend sein. Aus unserer Sicht könnten weniger Pendlerstunden das potenzielle BIP in den nächsten zehn Jahren um 0,1 Prozentpunkte pro Jahr erhöhen.
Wie könnte der Homeoffice-Trend das potenzielle BIP zusätzlich steigern? Die Antwort hängt vielleicht zum großen Teil von der Rolle erwerbstätiger Frauen ab.
Mehr erwerbstätige Frauen?
Viele Frauen zogen sich 2020 aus dem Erwerbsleben zurück, da es ihnen nicht möglich war, sowohl die Kinderbetreuung als auch ihre beruflichen Verpflichtungen in Einklang zu bringen. Natürlich erhielt dieser Trend große mediale Aufmerksamkeit. Es gibt jedoch einen potenziellen Silberstreif am Horizont, der weniger beachtet wurde.
Wenn die Heimarbeit immer alltäglicher wird (auch dank effektiverer Technologien), kann dies die Zahl der erwerbstätigen Frauen signifikant und dauerhaft erhöhen. Dadurch könnte sich die seit langem bestehende Diskrepanz von etwa 10 Prozentpunkten zwischen der Erwerbsbeteiligung von Männern und Frauen im erwerbsfähigen Alter verringern. In der folgenden Grafik zeigen wir die Beteiligungsquoten von Männern und Frauen vor der Pandemie.
Wie würde sich eine geringere Lücke auf das potenzielle BIP auswirken?
Telearbeit könnte dazu beitragen, die Lücke zu schließen
Sollte sich die Partizipationslücke zwischen Frauen und Männern vollständig schließen, würde sich das verfügbare Arbeitskräfteangebot dadurch um etwa 6 % erhöhen. Wenn diese erhöhte Beteiligung über einen zehnjährigen Zeitraum bestehen bliebe, würde das potenzielle BIP um ungefähr 0,6 Prozentpunkte pro Jahr zunehmen.
Selbst wenn die Lücke über einen Zeitraum von 20 Jahren nur zur Hälfte geschlossen wird, würde dies das potenzielle BIP um jährlich 0,15 Prozentpunkte steigern. Das wäre immer noch ein deutlicher Zuwachs.
Automatisierung, Arbeitslosigkeit und potenzielles BIP
Die zunehmende Automatisierung wird wahrscheinlich eine weitere Steigerung der Produktivität und des potenziellen BIP bewirken.
So könnte sich ein Erfolgskreislauf entfalten: Ein starkes Lohnwachstum führt zu höheren Automatisierungsinvestitionen, eine Dynamik, die wir in den 1990er Jahren gesehen haben und die inzwischen wieder zu beobachten ist (Grafik unten). Wenn Unternehmen in Automatisierung investieren, verbessert sich die Produktionskapazität in der Gesamtwirtschaft.
Automatisierungsinvestitionen ziehen an
Wie könnte sich die Automatisierung auf den Arbeitsmarkt auswirken? Zweifellos wird die Automatisierung eine gewisse Anzahl und einige Kategorien von Arbeitsplätzen verdrängen. Der US-Arbeitsmarkt ist jedoch ungemein in Bewegung. Sofern die Gesamtnachfrage robust bleibt, wird die Automatisierung in den nächsten drei bis fünf Jahren wahrscheinlich einen Nettozuwachs von Arbeitsplätzen bewirken. Die Vorteile eines größeren gesamtwirtschaftlichen Kuchens würden die massive Beeinträchtigung durch die automatisierungsbedingten Arbeitsplatzverluste überwiegen. Wir gehen davon aus, dass viele – nicht alle – freigestellten Beschäftigten in die schnell wachsenden, arbeitsintensiven Wirtschaftszweige wie etwa die Installation sauberer Energie und die Altenpflege wechseln werden. Unser Fazit: Automatisierung muss – wie schon in den 1990er Jahren – nicht zwangsläufig zu einer dauerhaft höheren Arbeitslosigkeit führen.
Auswirkungen auf das Anlageumfeld
Ein höheres BIP-Wachstum hat einige entscheidende Auswirkungen auf das Anlageumfeld. Im nächsten Zyklus könnte es der Federal Reserve ermöglichen, ihre Schätzung zum langfristigen neutralen US-Leitzins nach oben zu revidieren. Bei ansonsten gleichen Bedingungen könnten die längerfristigen Zinssätze in den 2020er Jahren dadurch stärker steigen als in den 2010er Jahren.
Sicherlich müssten wir noch Jahre warten, bis sich das Thema des höheren potenziellen BIP-Wachstums an den Anleihenmärkten vollständig durchgesetzt hat. An den Aktienmärkten könnten sich die Aufwärtskorrekturen der langfristigen Wachstumserwartungen aber bereits niederschlagen. Tatsächlich spiegelten die Aktienmärkte den Anstieg des potenziellen BIP-Wachstums in den 1990er Jahren viel früher wider als die Anleihenmärkte. In diesem Zyklus erwarten wir für den S&P 500 Index ein durchschnittliches Gewinnwachstum von 9 % gegenüber 6,5 % in der Zeit nach der Finanzkrise – eine optimistische Einschätzung im Vergleich zum Konsens.
Unsere eigene Erwartung eines höheren potenziellen BIP-Wachstums bekräftigt unsere Präferenz für eine Übergewichtung von Aktien und eine Untergewichtung von Anleihen. Dies bedeutet auch, dass wir unsere Präferenz wahrscheinlich länger beibehalten werden als in früheren Zyklen.
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