Anlagestrategie
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Die alten Konzepte gehen nicht mehr auf. Europa steht an einem Wendepunkt.
US-Zölle bedrohen seine exportorientierte Wirtschaft, mögliche Gespräche über einen Waffenstillstand in der Ukraine sind unvorhersehbar und das Ergebnis der Bundestagswahl steht fest. Die Botschaft ist eindeutig: Europa muss seine Zukunft selbst in die Hand nehmen.
Langjährige transatlantische Allianzen werden immer komplexer, was die Dringlichkeit von Sicherheitsverhandlungen unterstreicht. Hinzu kommt das schleppende Wachstum in Europa und die Tatsache, dass die Europäische Zentralbank ihren Kampf gegen die Inflation noch nicht gewonnen hat.
Die vergangene Woche war eine Bewährungsprobe, was all diese Themen anbelangt. Hier sind die fünf Erkenntnisse, die wir daraus gezogen haben.
Ob die US-Zölle lediglich eine Verhandlungstaktik oder eine echte Bedrohung darstellen, ist ungewiss. Die derzeitigen Diskussionen gefährden jedoch die exportorientierte Wirtschaft Europas. Wir fassen zusammen, was wir bisher wissen.
Die Eröffnungssalve der 25%igen Einfuhrzölle auf Stahl- und Aluminiumimporte, die am 12. März in Kraft treten sollen, dürfte noch keine großen Auswirkungen haben. Obwohl die EU der drittgrößte Lieferant der USA ist, machen die betroffenen Waren nur 9 Mrd. Euro oder 0,05% des BIP der Region aus. 1 Die Maßnahme ist vielmehr ein erster Schritt zu größeren Bedrohungen.
Details zu möglichen reziproken Zöllen werden im April erwartet, ihre Definition und Auswirkungen sind jedoch unklar.
Wenn diese Zölle lediglich darauf abzielen, die Einfuhrzölle zwischen den USA und der EU anzugleichen, könnten sich die Folgen angesichts der durchschnittlichen Zollsätze von 3,4% in den USA und 4,1% in der EU in Grenzen halten. Sollte man dies jedoch auf Tausende von Produktkategorien anwenden, könnte es bei bestimmten Gütern zu einer massiven Anhebung kommen (siehe etwa Kraftfahrzeuge, wo der durchschnittliche US-Zoll gegenüber der EU bei 2,7% liegt, während er in der EU 8,5% beträgt).2
Erschwert wird die Lage durch die Drohung der USA, zusätzliche Zölle in Höhe von 25% auf Autos, Arzneimittel und Halbleiter zu erheben. Die USA sind der wichtigste Markt für Autos aus der EU, wobei Deutschland und Italien besonders stark betroffen sind.3 Noch komplexer wird es, wenn „reziproke“ Zölle auch Mehrwertsteuern einschließen.
Ebenso wichtig ist die Reaktion der EU. Die EU könnte auf der Grundlage ihres Strategieplans für 2018/19 hohe Zölle auf Produkte erheben, die mit politischen Kernstandorten in den USA in Verbindung stehen. Das neue EU-Instrument zur Bekämpfung von Zwangsmaßnahmen (Anti-Coercion Instrument, ACI) ermöglicht zudem umfassendere Schritte, darunter Beschränkungen von Dienstleistungen, geistigem Eigentum, ausländischen Investitionen und Regierungsaufträgen.
Handel ist eben nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine strategische Angelegenheit.
Die Handelsunsicherheit ist auf dem höchsten Stand seit der Pandemie und die weltweiten Konflikte sind so zahlreich wie seit 80 Jahren nicht mehr. Deshalb muss Europa seine Verteidigung stärken.4
Letzte Woche jährte sich der Beginn des Ukraine-Krieges zum dritten Mal. Die anhaltenden Verwerfungen und der jüngste Kurswechsel in der US-Politik unterstreichen die dringende Notwendigkeit verstärkter Verteidigungsfähigkeiten, um die Abschreckung zu gewährleisten und der Ukraine etwaige Sicherheitsgarantien im Rahmen eines Friedensabkommens zu bieten.
Europa hat jahrzehntelang zu wenig in die Verteidigung investiert und das von der NATO angestrebte Ziel von 2% des BIP deutlich verfehlt. Von 1990 bis 2021 wuchs dieses Defizit auf rund 1,8 Bio. Euro an, wobei Deutschland aufgrund massiver Einsparungen nach Ende des Kalten Krieges für ein Drittel verantwortlich war.5
Nun wendet sich das Blatt jedoch: Die EU-Staaten erhöhen ihre Militäretats. 2014 war Griechenland das einzige EU-Land in der NATO, das das Zwei-Prozent-Ziel einhielt; im vergangenen Jahr haben vermutlich 17 NATO-Mitglieder in der EU diese Vorgabe erreicht. Angesichts der Forderungen nach einer weiteren Aufstockung, die Präsident Trump nachdrücklich unterstützt, könnten die Verteidigungsausgaben des Blocks in den kommenden Jahren auf 2,5% bis 3% des BIP steigen.
Den Märkten ist das nicht entgangen: Der Stoxx Europe 600 Aerospace and Defense Index ist seit August um über 30% gestiegen.
Allerdings waren die politischen Entscheidungsträger in Europa in der Vergangenheit immer vorsichtig, wenn es darum ging, Staatsausgaben durch neue Schulden zu finanzieren. Sie werden das Sicherheitsbedürfnis gegen mögliche Defizite abwägen müssen.
Die geopolitischen Verschiebungen sind eine Herausforderung für die transatlantischen Allianzen. Sie legen Schwachstellen offen und sorgen für eine Neuausrichtung der Lieferketten. Energie und Technologie sind zu entscheidenden Frontlinien geworden.
Der Krieg in der Ukraine unterstreicht diese Probleme. Vor dem Konflikt machte russische Energie 35% der europäischen Importe aus.6 Dies ist mittlerweile durch Sanktionen beschränkt, doch nun könnten mögliche Friedensgespräche die Energielieferungen nach Europa wieder ankurbeln.
Dies wirft eine zentrale Frage auf: Wie abhängig sollten Europa und der Westen nach dem Krieg von russischem Gas sein? Manche argumentieren, dass eine Lockerung der Sanktionen den hohen Energiepreisen entgegenwirken könnte.
Die Bemühungen um Energieunabhängigkeit laufen bereits. Die Region hat ihre Kapazitäten zur Regasifizierung von Flüssigerdgas seit Kriegsbeginn um 75 Milliarden Kubikmeter erhöht und plant zwischen 2021 und 2030 eine Ausweitung um 60%.7 Die nordamerikanische Exportkapazität dürfte sich bis 2028 verdoppeln.8
Dies könnte jedoch nicht ausreichen.
Um die Energielücke zu schließen und die Entwicklung von künstlicher Intelligenz (KI) zu ermöglichen, sind weitere Fortschritte erforderlich. Beispielsweise wird der Bedarf von US-Rechenzentren zu über 40% durch Erdgas abgedeckt. Derweil sind die Industrien in Europa mit erheblichen regulatorischen Hürden konfrontiert, die der IWF mit Zöllen von 45% für das verarbeitende Gewerbe und 110% für den Dienstleistungssektor gleichsetzt. 9,10
Aufgrund der hohen Nachfrage ist eine vollständige Energieunabhängigkeit in naher Zukunft unwahrscheinlich. Dies stellt eine Herausforderung dar: Die Sicherheitsrisiken einer übermäßigen Abhängigkeit von russischem Gas müssen gegen die unmittelbaren Kostenvorteile abgewogen werden. Von den politischen Entscheidungsträgern wird erwartet, dass sie das Angebot an Energiequellen diversifizieren. Es bleibt jedoch fraglich, ob sich angesichts interner Differenzen eine einheitliche Strategie entwickeln lässt.
Das vorläufige Ergebnis der Bundestagswahl am Sonntag liegt nun vor. Die CDU/CSU kam auf 28,5% der Stimmen, die AfD auf 20,8%, die SPD auf 16,4% und die Grünen auf 11,6%. Die Linke schaffte es mit 8,8% über die 5-Prozent-Hürde und hat nun wieder Fraktionsstatus, während BSW und FDP mit 4,97% bzw. 4,33% nicht in den Bundestag einziehen werden.11
Damit verfügen CDU/CSU und SPD zusammen über 52% der Sitze. Am wahrscheinlichsten ist eine schwarz-rote Koalition unter einem Kanzler Friedrich Merz. Ein solches Zweierbündnis könnte die Regierungsbildung erleichtern, da kein dritter Koalitionspartner erforderlich ist.
Verfassungsänderungen dürften sich allerdings schwierig gestalten. Trotz der höchsten Wahlbeteiligung seit über drei Jahrzehnten verzeichneten die großen Parteien die geringsten Stimmenanteile aller Zeiten. Mit nur 52% der Sitze verfügen Union und SPD nicht über die erforderliche Zweidrittelmehrheit für eine Grundgesetzänderung und sind daher auf eine Zusammenarbeit mit den kleineren Parteien angewiesen.
Ein entscheidendes Thema wird die Reform der Schuldenbremse sein, die das deutsche Haushaltsdefizit derzeit auf 0,35% des BIP begrenzt. Die Lockerung der Schuldenbremse könnte unumgänglich sein, um die notwendigen Verteidigungsausgaben zu ermöglichen, was wiederum einen bedeutenden Schritt in der Gestaltung der Zukunft Deutschlands – und Europas – darstellt.
Europa befindet sich an einem Wendepunkt. Der Krieg in der Ukraine, mögliche US-Zölle und wechselnde Allianzen unterstreichen die Notwendigkeit, seinen eigenen Kurs zu verfolgen – einen Kurs, der die Verteidigung stärkt und auf Innovationen setzt.
Dies in einem Umfeld zu erreichen, in dem die Regierungen nur begrenzt in der Lage oder bereit sind, entsprechende Mittel in die Hand zu nehmen, ist eine Herausforderung. Langfristiges Wachstum wird gemeinsame Anstrengungen erfordern.
Trotz der Unsicherheit haben europäische Aktien zuletzt Rekordhochs erreicht. Der Euro Stoxx 50 hat den S&P 500 in den ersten sieben Wochen des Jahres 2025 übertroffen, und der deutsche DAX hat US-Aktien in den letzten vier Jahren leicht überflügelt.
Dies unterstreicht eine wichtige Erkenntnis: Der Markt ist nicht die Wirtschaft. Obwohl der Automobilsektor beispielsweise für die europäische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung ist, machen Automobilhersteller gerade einmal 5% des Euro Stoxx 50 Index aus.
Die starke Marktentwicklung der jüngsten Zeit ist auf unerwartet hohe Unternehmensgewinne und eine Erholung der Bewertungen zurückzuführen. Vieles ist noch ungewiss, aber ein möglicher Waffenstillstand in der Ukraine, eine gemäßigtere Haltung der USA hinsichtlich der Zölle oder ein anhaltender Gewinnaufschwung könnten kurzfristig für Optimismus sorgen.
In der Zwischenzeit gehen wir weiterhin selektiv vor. Dabei konzentrieren wir uns auf Bereiche, in denen strukturelle Faktoren – Kräfte, die ein dauerhaftes, nichtzyklisches Wachstum bewirken – die makroökonomischen Herausforderungen „überwinden“ können. Wir sind der Meinung, dass erhöhte Kapitalinvestitionen einer Reihe von Unternehmen im Industrie- und Technologiesektor zugutekommen.
Ihr Team bei J.P. Morgan steht Ihnen zur Seite, um diese Entwicklungen gemeinsam anzugehen und potenzielle Chancen zu erkunden.
1 Goldman Sachs. European Daily: „EU—The Economic Effects of Delivered, Likely and Possible US Tariffs“. 13. Februar 2025.
2 J.P. Morgan. „Euro area: Tariff threat ramps up“. 14. Februar 2025.
3 Oxford Economics. „Driving into uncertainty: How Trump’s tariffs could derail Europe’s automotive powerhouse“. 22. Januar 2025.
4 UCDP, Davies, Shawn, Therese Pattersson, Magnus Öberg, Gleditsch, Nils Petter, Peter Wallensteen, Mikael Eriksson, Margareta Sollenberg und Håvard Strand. 31. Dezember 2023.
5 J.P. Morgan. „European Defence: The €1.8 trillion “catch up trade” - Europe’s Rearmament Cycle“. 26. März 2024.
6 Institute for Energy Economics and Financial Analysis. 10. Februar 2025.
7 Internationale Energieagentur. „10-Point Plan to Reduce the European Union’s Reliance on Russian Natural Gas“. März 2022.
8 U.S. Energy Information Administration (EIA). „North America’s LNG export capacity is on track to more than double by 2028“. 3. September 2024.
9 U.S. Energy Information Administration (EIA), Aterio, J.P. Morgan Asset Management (Eye on the Market – Ausblick 2025). Stand der Daten: 2024.
10 Draghi, Mario. Financial Times. „Forget the US — Europe has successfully put tariffs on itself“. 14. Februar 2025.
11 Bundeswahlleiterin und ARD via dpa-infocom. Stand: 12 Uhr, 24. Februar 2025.
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