Um die potenziellen Vorteile von Fintech zu nutzen, sollten Anleger auf innovative Neueinsteiger und anpassungsfähige etablierte Unternehmen achten.
Ist Bargeld tot? Noch nicht. In den meisten Ländern wickeln die Menschen – rund 75 % weltweit – den überwiegenden Teil ihrer Geschäfte immer noch in bar ab.1 Gleichzeitig ist ein massiver digitaler Wandel zu beobachten.
Bargeld ist oft unpraktisch (wo ist der nächste Geldautomat?) und keine Option, wenn sich mit COVID-19 immer mehr unserer Aktivitäten ins Internet verlagern. Von Frühjahr 2019 bis 2020 verdoppelten sich die E-Commerce-Ausgaben in den USA auf 22 % aller Einzelhandelsumsätze.2 China arbeitet sogar an der Einführung einer digitalen Währung, die von seiner Zentralbank gestützt wird.
Die Welt gewöhnt sich an eine neue Normalität, und Fintech (kurz für Finanztechnologie) ist geradezu prädestiniert, um dies zu ermöglichen und davon zu profitieren.
Insofern überrascht es nicht, dass Fintech-Investitionen dem Frühstadium entwachsen sind und sich zu einem Schwerpunkt entwickelt haben. In den USA zum Beispiel entfielen drei der fünf größten Fusionen und Übernahmen im zweiten Quartal 2020 auf den Fintech-Bereich. Und die Liste der größten Venture-Capital-Geschäfte im Fintech-Segment wird inzwischen von Startups in der Spätphase dominiert.3
Auch die öffentlich gehandelten Märkte erkennen das Wachstumspotenzial von Fintech. Bis 2022 wird der FactSet Global Fintech Index voraussichtlich ein annualisiertes Gewinnwachstum je Aktie von 43 % verzeichnen – doppelt so viel wie die durchschnittliche Prognose für den MSCI All Country World Index.
In der Tat dürfte die Fintech-Branche im Jahr 2030 einen Umsatz von 500 Mrd. USD erwirtschaften (2018: 150 Mrd. USD), wobei sowohl Neueinsteiger als auch anpassungsfähige etablierte Unternehmen signifikante Marktanteile erobern können. Das Spektrum reicht vom Zahlungsverkehr über Investitionen bis hin zu Versicherungen. 4
Analysten erwarten einen Fintech-Boom
Was genau ist Fintech?
Finanztechnologie ist der Oberbegriff für Produkte und Dienstleistungen, die das Internet, Software, mobile Geräte oder Cloud-Kapazitäten nutzen, um Privatpersonen, Unternehmen, Regierungen und anderen eine geldtechnische Lösung zu ermöglichen.
Viele wichtige Servicekategorien wie Zahlungsverkehr, Bankgeschäfte, Kredite, Handel, Investitionen und Versicherungen haben einen signifikanten und wachsenden Marktwert. Beispielsweise beliefen sich alle Zahlungen weltweit im Jahr 2018 auf rund 200 Bio. USD, obwohl elektronische Transaktionen davon nur etwa 40 Bio. USD ausmachten. Schätzungen zufolge wird das weltweite Zahlungsvolumen bis 2030 jedoch um 30 % auf etwa 260 Bio. USD anwachsen. Davon sollen 90 Bio. USD elektronisch abgewickelt werden, ein erstaunlicher Anstieg von 125 %.5
„Fintech“ verändert viele Aspekte unseres Finanzlebens
Wo liegen die potenziellen Chancen?
Mit der Transformation der Finanzdienstleistungen generieren neue Geschäftsmodelle ein beträchtliches Wachstum. Nehmen Sie zum Beispiel die Handelsplattformen digitaler Börsenmakler: Die Nutzerbasis der US-Plattform „Robinhood“ wuchs von einer Million im Jahr 2016 auf mehr als zehn Millionen Ende 20196; die Umsätze aus ihrem Order Flow haben sich von 91 Mio. USD im ersten Quartal 2020 auf 180 Mio. USD im zweiten Quartal 2020 nahezu verdoppelt.7
Hinzu kommt die Entwicklung im elektronischen und kontaktlosen Zahlungsverkehr, im digitalen Banking sowie bei Versicherungslösungen, die auf künstlicher Intelligenz (KI) basieren.
Umstellung auf elektronische und kontaktlose Zahlungen
China ist mittlerweile das E-Commerce-Zentrum der Welt, das 2019 rund 56 % der weltweiten Umsätze im elektronischen Handel abwickelte. Grund sind Online-Bezahldienste und digitale Geldbörsen, die Rechnungs- und Versandinformationen automatisch ausfüllen. Das Ergebnis: Alibabas „Alipay“ ist ein dominierender Anbieter mit mehr als 1 Milliarde Nutzern.
In den Vereinigten Staaten wurden 2019 nur 11 % der US-Einzelhandelsumsätze von 5,5 Bio. USD als E-Commerce eingestuft. Doch auch westliche Zahlungsunternehmen stellen sich dem Wettbewerb, um das Wachstumspotenzial im US-amerikanischen E-Commerce zu nutzen und davon zu profitieren. PayPal und andere externe Wallet-Anbieter werden bereits von neun der zehn größten US-Online-Händler akzeptiert. Giganten wie Apple und Amazon mischen ebenfalls mit.
In der physischen Welt setzt sich das kontaktlose Bezahlen derweil zunehmend durch. Die Verwendung von QR-Codes, Tap-and-Pay-Karten und mobilen Geräten hat einen Anteil von 37 % der persönlichen Transaktionen erreicht (ggü. 28 % vor einem Jahr), und Apple Pay ist nur ein Anbieter.8
Förderung der finanziellen Inklusion mit Fintech-Banking
Die Versorgung von 20 % der Weltbevölkerung, die zwar keine Bankverbindung (also kein Konto bei einer Bank oder einem ähnlichen Finanzinstitut), aber ein Mobiltelefon besitzt, ist eine große Chance für Unternehmen, die SMS- oder App-basierte Bankdienstleistungen anbieten:
- Bankgeschäfte in Regionen, in denen es kaum stationäre Bankfilialen gibt – U Microfinance Bank Limited hat „UPaisa“ in Pakistan eingeführt, das ausschließlich mobiles Banking anbietet. Die Nutzer können Geld überweisen und empfangen, Rechnungen bezahlen, online einkaufen und Spenden tätigen, auch ohne Smartphone.
- Banking ohne Ausweispapiere – Das Londoner Startup Humaniq Limited nutzt Biometrie, um Menschen ohne „Identitätsnachweis“ mithilfe von Blockchain und KI zu integrieren.
- Banking ohne Mindestkontostand – Unternehmen wie PayPal ermöglichen es den Nutzern, Bargeld sofort in eine Debitkarte umzuwandeln, die in Geschäften oder online verwendet werden kann.
Lücken im Versicherungsangebot schließen
Die Zahl der US-Haushalte mit einer Lebensversicherung bewegt sich auf einem 50-Jahres-Tief,9 wodurch sich eine geschätzte Unterversicherung von 25 Bio. USD ergibt.10 Darüber hinaus wissen schätzungsweise 50 Millionen Privathaushalte, dass sie mehr Lebensversicherungen brauchen, und 52 % der Befragten gaben an, sie würden wahrscheinlich eher eine Police abschließen, wenn sie nicht mit körperlichen Untersuchungen einherginge.11
Dadurch eröffnen sich neue Möglichkeiten. So bietet zum Beispiel das in San Francisco ansässige Unternehmen Ethos Technologies Lebensversicherungslösungen an, für die lediglich ein Online-Antrag erforderlich ist, der in wenigen Minuten ausgefüllt werden kann (medizinische Untersuchungen sind nicht notwendig).12
In China verbessern die führenden Anbieter von „Insurtech“ zurzeit die Effizienz und das Kundenerlebnis, indem sie Technologien wie Big Data, KI und Cloud-Software einsetzen. Der chinesische Versicherer Ping An verwendet KI, um Betrug vorzubeugen und die Bearbeitung von Kfz-Schäden zu optimieren: Rund 80 % der Versicherungsfälle des Unternehmens werden als Bagatellansprüche eingestuft, und etwa 95 % davon werden durch KI verarbeitet – mit einer Genauigkeit von 90 %. Infolgedessen gingen die Verluste aus Versicherungsansprüchen im ersten Halbjahr 2017 um 7,8 % (bzw. 480 Mio. USD) zurück.13
Mehr Wachstum für Fintech und weitere Umbrüche
Die digitale Transformation ist ein weltweiter Megatrend, der bereits zu einem tiefgreifenden Wandel im Bereich der Finanzdienstleistungen geführt hat – es sind aber noch weitere Umbrüche zu erwarten.
Natürlich darf man nicht vergessen, dass das digitale Finanzwesen mit Risiken verbunden ist, darunter die regulatorische Komplexität und Herausforderungen wie Datensicherheit und Datenschutz.
Es könnte sich jedoch lohnen, die Risiken dieses wachstumsstarken Segments zu meistern. Sprechen Sie daher mit Ihrem Team bei J.P. Morgan darüber, ob derartige Investments zu Ihren langfristigen Zielen passen. Weitere Einblicke in diesen und andere Megatrends finden Sie hier auf unserem Informationsportal.
1 „World Cash Report 2018“, G4S Cash Solutions, 1. Mai 2018.
2 „Payment Processing: A Closer Look at Digital Commerce“, J.P. Morgan Research, 25. Juni 2020.
3 MoneyTree Report: Q2 2020, PwC und CB Insights, Juli 2020.
4 Schätzungen von UBS. Stand: September 2019.
5 „European Payments 2020: The era of consolidation“, Goldman Sachs Research, 24. Januar 2020.
6 „Ten Million Thanks“, Under the Hood (Blog), Robinhood, 4. Dezember 2019.
7 „RHS SEC Rule 606 and 607 Disclosure report“, Robinhood Securities, 28. Juli 2020.
8 „Payments: Interesting chess move by Apple buying Mobeewave to turn iPhones into POS devices“, J.P. Morgan Research, 3. August 2020. Die digitale Geldbörse von Apple Pay (die es seit 2014 gibt) ist ein Beispiel für eine App, die dies ermöglicht. Außerdem hat das Unternehmen seine Zahlungsmöglichkeiten kürzlich durch die Akquisition von Mobeewave erweitert. Damit können iPhones als Kassenterminal für kontaktloses Bezahlen per App dienen.
9 „What can breathe new life into the waning life insurance industry?“ Gerv Tacadena, Hannover RE und das Magazin „Insurance Business“, 19. April 2019.
10 Die Schätzung basiert auf dem prognostizierten Bedarf eines Ersatzeinkommens im äußersten Fall. „Life underinsurance in the U.S.: bridging the $25 trillion mortality protection gap“, Swiss Re Institute, September 2018.
11 „Facts About Life 2018“, LIMRA, September 2018.
12 „What we offer“, ethoslife.com, Ethos Technologies, Inc., 10. August 2020.
13 „Lessons from China’s Insurtech Leaders“, BCG, 2019.